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Prof. Jürgen M. Steinacker: Funktionelle und morphologische Veränderungen in Mitochondrien in der Muskulatur

 

Kurzzusammenfassung

 

Prof. Dr. Jürgen M. Steinacker erklärte auf der Fatigatio-Fachtagung 2024, wie zentrale Mechanismen von ME/CFS und Long-COVID auf Störungen der Mitochondrien beruhen.

 

Post-Exertional Malaise (PEM)
Steinacker hob hervor, dass PEM eines der markantesten Merkmale von ME/CFS ist. Selbst kleinste körperliche oder kognitive Anstrengungen können zu einem deutlichen und oft verzögerten Rückfall führen. Er erklärte, wie die gestörte Energieproduktion der Mitochondrien dazu führt, dass der Körper nicht ausreichend ATP, die Energiewährung der Zellen, bereitstellt. Dies erklärt auch, warum Betroffene nach Aktivität länger brauchen, um sich zu erholen und häufig eine drastische Verschlechterung ihres Zustands erleben. Diese Reaktion auf Belastung ist das Resultat eines gestörten zellulären Stoffwechsels, die zudem die schnelle Wiederherstellung von Energie verhindert.

 

Zucker- und Fettstoffwechsel aus dem Gleichgewicht
Ein weiteres wichtiges Thema, das Steinacker erläuterte, ist der gestörte Zuckerstoffwechsel bei ME/CFS und Long-COVID. Glukose, die normalerweise für die Energiegewinnung in den Muskeln verwendet wird, kann laut ihm nicht effizient verwertet werden. Stattdessen wird der Zucker in Fett umgewandelt, was oft zu Gewichtszunahme führt. Obwohl Glukose im Blut vorhanden ist, kann sie nicht in Energie umgewandelt werden. Dies führt dazu, dass der Körper auf Muskelproteine als Energiequelle zurückgreift, was zu Muskelabbau und weiter verminderter Belastbarkeit führt.

 

Mitochondriale Störungen und Entzündung
Steinacker ging auch auf die Rolle von Entzündungen ein. Er betonte, dass durch chronische Entzündungsprozesse, die oft durch Virusinfektionen wie SARS-CoV-2 oder Epstein-Barr-Virus (EBV) ausgelöst werden, die Mitochondrien nicht nur weniger Energie produzieren, sondern auch toxische, entzündungsfördernde Stoffe freisetzen. Diese reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) verstärken die Zellschäden weiter und erschweren die Regeneration nach Belastung, was PEM zusätzlich verstärkt.

 

Laut Steinacker sind diese komplexen biologischen Mechanismen entscheidend für das Verständnis und die zukünftige Behandlung von ME/CFS und Long-COVID.



 

Der Vortrag im Detail

 

1. Epidemiologische Beobachtungen und Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit

Steinacker zeigte in Studien, dass etwa 37 % der COVID-19-Patienten auch ein Jahr nach der Infektion noch an Fatigue und anderen Symptomen leiden. Er stellte fest, dass Long-COVID ähnliche Mechanismen wie ME/CFS aufweist, besonders im Hinblick auf den chronischen Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit. Dieser signifikante Leistungsabfall bleibt oft bestehen, auch wenn die akuten Symptome abgeklungen sind, und ist bei Sportlern schwerer zu erkennen, da sie bereits auf hohem Niveau starten. Selbst moderate Rückgänge in der Leistungsfähigkeit sind bei ihnen stark spürbar.

 

2. Mitochondriale Dysfunktion

Steinacker wies darauf hin, dass sowohl bei ME/CFS- als auch bei Long-COVID-Patienten auffällige strukturelle und funktionelle Veränderungen in den Mitochondrien nachgewiesen wurden:

 

Morphologische Veränderungen: In Muskelbiopsien wurden deutliche Veränderungen in der Struktur der Mitochondrien festgestellt, insbesondere bei den Cristae, den inneren Membranstrukturen, die für die Atmungskette entscheidend sind. Diese Cristae waren bei den Betroffenen oft zerstört oder fehlten gänzlich, was die Effizienz der Mitochondrien erheblich beeinträchtigt.

 

Funktionelle Störungen: Diese strukturellen Veränderungen führten zu einer stark gestörten ATP-Produktion. Steinacker erklärte dies bildhaft als „verstopfte Benzinleitung“: Die Mitochondrien arbeiten nur auf Sparflamme, was dazu führt, dass sie nicht genügend Energie bereitstellen können. Dies führt zu einer drastischen Verminderung der ATP-Reserven und erklärt die extreme Fatigue und die Unfähigkeit der Betroffenen, sich nach Belastung schnell zu erholen.

 

3. Stadien der Dysfunktion

Steinacker stellte fest, dass sowohl ME/CFS- als auch Long-COVID-Betroffene mitochondriale Störungen aufwiesen, wobei die Schwere der Dysfunktion variierte. Bei vielen Patienten war die Funktion des Komplex I der Atmungskette gestört, der für die Energiegewinnung aus Glukose verantwortlich ist. Diese Blockade führt zu einem Rückstau von Pyruvat und einer verstärkten Laktatbildung, was darauf hinweist, dass die Zellen zunehmend auf weniger effiziente anaerobe Energiegewinnung umstellen müssen.

 

4. Gestörte Glykolyse und Laktatbildung

Ein wesentlicher Aspekt der mitochondrialen Dysfunktion ist die beeinträchtigte Glykolyse – der Prozess, bei dem Zucker (Glukose) in den Zellen zur Energiegewinnung abgebaut wird. Durch die Störung der Atmungskette kann die Glukose nicht effizient genutzt werden, was zu einer verstärkten Bildung von Laktat führt. Laktat entsteht als Nebenprodukt der anaeroben Energiegewinnung, wenn die Zellen gezwungen sind, ohne Sauerstoff zu arbeiten. Diese ineffiziente Energiegewinnung erklärt die schnelle und stark beeinträchtigende Fatigue der Betroffenen.

 

5. Zuckerstoffwechsel und Adipositas

Steinacker beschrieb, dass bei ME/CFS- und Long-COVID-Patienten der Zucker, der im Blut vorhanden ist, nicht effektiv in die Muskelzellen transportiert wird, wo er zur Energiegewinnung benötigt wird. Stattdessen wird der überschüssige Zucker in Fett umgewandelt, was zu einer vermehrten Adipositas (Fettleibigkeit) führen kann. Dies ist nicht mit einem klassischen Diabetes zu verwechseln, aber es zeigt insulinresistenzähnliche Mechanismen, bei denen der Zucker nicht effektiv in den Zellen verwendet wird.

 

6. Proteinabbau zur Energiegewinnung

Da der Körper aufgrund der mitochondrialen Dysfunktion nicht genügend Energie aus Zucker oder Fett gewinnen kann, greift er auf Muskelprotein als Energiequelle zurück. Dies führt zu einem schädlichen Proteinabbau, der Muskelmasse zerstört und zur weiteren Schwächung der Patienten beiträgt. Der Abbau von Muskelprotein erfolgt über den sogenannten Tim-Tom-Komplex, der für den Proteintransport in die Mitochondrien verantwortlich ist. Dies erklärt, warum viele Betroffene einen Verlust an Muskelmasse und zunehmende körperliche Schwäche erleben.

 

7. Vergleich zwischen ME/CFS und Long-COVID

Prof. Steinacker zog Parallelen zwischen ME/CFS und Long-COVID und erklärte, dass Long-COVID als eine Form von ME/CFS verstanden werden könne, da diese ähnliche Mechanismen der mitochondrialen Dysfunktion aufweisen. Besonders auffällig war, dass die Schädigung der Cristae und der Atmungskette bei ME/CFS oft weiter fortgeschritten ist, während Long-COVID-Patienten tendenziell eine weniger ausgeprägte Dysfunktion aufweisen.

 

8. Therapieansätze

Steinacker sprach auch über potenzielle Therapieansätze. Er betonte, dass die Entzündungsprozesse eine Schlüsselrolle spielen und dass sowohl die Entzündungen als auch die mitochondriale Dysfunktion behandelt werden müssen. Obwohl es derzeit keine klaren therapeutischen Lösungen gibt, zeigte er einige Ansätze auf, die in der Zukunft weiter erforscht werden sollten. Dazu gehören Interventionen, die die oxidative Phosphorylierung verbessern könnten – also den Prozess, durch den ATP in den Mitochondrien gebildet wird.

 

9. Zusammenfassung

Prof. Steinackers Vortrag bot eine detaillierte Erklärung der komplexen Mechanismen, die ME/CFS und Long-COVID zugrunde liegen. Die gestörte mitochondriale Funktion führt zu einem erheblichen Energieverlust, da die Mitochondrien nicht in der Lage sind, Glukose und Fettsäuren effizient zur Energiegewinnung zu nutzen. Dies führt zu einer verstärkten Laktatbildung, einem Rückstau von Pyruvat und einem erhöhten Proteinabbau, was zu Muskelschwund und muskulärer Fatigue führt. Gleichzeitig führt die ineffiziente Verwertung von Zucker im Blut zu einer Umwandlung in Fett und begünstigt die Entstehung von Adipositas. Diese Veränderungen erklären die Hauptsymptome von ME/CFS und Long-COVID wie Fatigue, Muskelschwäche und PEM.

 

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