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Häufige Pathogene bergen ein höheres individuelles Risiko zur Entstehung von ME/CFS als SARS-CoV-2

 

Kurzzusammenfassung

 

Im Artikel "A Post-Infectious Disease Moment: Common Pathogens are as Bad as COVID-19 in Creating ME/CFS“ verdeutlicht Cort Johnson, dass häufige Erreger wie Borrelia burgdorferi (Lyme-Borreliose), Enteroviren und Mycobacterium tuberculosis ein höheres Risiko für die Entwicklung von ME/CFS bergen als SARS-CoV-2.

Die Chang et al.-Studie, eine 17-Jahres-Kohortenstudie, zeigte, dass Borrelia burgdorferi mit einer Hazard Ratio (HR) von 3.37 das höchste Risiko darstellt, gefolgt von Enteroviren und Tuberkulose. Auch andere Pathogene wie das Influenzavirus bergen ein beachtliches Risiko.

 

Eine weitere interessante Erkenntnis der Chang et al.-Studie war, dass bestimmte Antibiotika wie Doxycyclin und Azithromycin möglicherweise eine schützende Wirkung gegen die Entwicklung von ME/CFS haben, da sie entzündungshemmende Eigenschaften aufweisen.

 

Die Multisite Clinical Assessment Study, geleitet von Dr. Elizabeth Unger, verglich das Risiko, ME/CFS nach SARS-CoV-2-Infektionen im Vergleich zu anderen Infektionen zu entwickeln. Die Studie stellte fest, dass das Risiko für ME/CFS nach einer COVID-19-Infektion nicht höher war als nach anderen Infektionen. Ungefähr 3-4 % der Patienten entwickelten in beiden Gruppen ME/CFS-ähnliche Symptome.

 

In der COVIDENCE UK-Studie wurden Langzeitsymptome nach COVID-19 und anderen akuten Atemwegsinfektionen untersucht. Es zeigte sich, dass sowohl Fatigue als auch Post-Exertionelle Malaise (PEM) in beiden Gruppen häufig auftraten. Interessanterweise war PEM bei COVID-19-negativen Betroffenen häufiger (24,4 %) als bei den COVID-19-positiven (16,3 %).

 

#MillionsMissing Deutschland weist darauf hin, dass die Chang et al.-Studie aufgrund fehlender Hinweise auf PEM nicht nur ME/CFS-Betroffene einschließen könnte, sondern auch Menschen mit anderen postakuten Infektionssyndromen, was die Ergebnisse zusätzlich beeinflussen könnte.

 

Quelle: Health Rising Blog

Studien:

  • Unger, Elizabeth R et al. “Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome After SARS-CoV-2 Infection.” JAMA Network Open, vol. 7,7, e2423555, 1 Jul. 2024, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.23555
  • Vivaldi G, Pfeffer PE, Talaei M, Basera TJ, Shaheen SO, Martineau AR. “Long-term symptom profiles after COVID-19 vs other acute respiratory infections: an analysis of data from the COVIDENCE UK study.” EClinicalMedicine, vol. 65, 2023, doi: 10.1016/j.eclinm.2023.102251
  • Chang H, Kuo CF, Yu TS, Ke LY, Hung CL, Tsai SY. “Increased risk of chronic fatigue syndrome following infection: a 17-year population-based cohort study.” Journal of Translational Medicine, vol. 21,1, 2023, doi: 10.1186/s12967-023-04636-z

 

Die Studien im Detail

 

1. Ein postinfektiöser Wendepunkt

Cort Johnsons Artikel hebt die zunehmende Erkenntnis hervor, dass viele häufige Krankheitserreger, die früher als relativ harmlos galten, ein signifikantes Risiko für die Entwicklung von ME/CFS bergen – oft sogar ein höheres Risiko als SARS-CoV-2. Dies betrifft insbesondere Viren wie das Grippevirus oder bakterielle Erreger wie Escherichia coli. Dieser Wendepunkt in der Wahrnehmung postinfektiöser Erkrankungen stellt eine zentrale Entwicklung dar, da ME/CFS zunehmend als schwerwiegende Folge solcher Infektionen anerkannt wird.

 

2. Multisite Clinical Assessment Study und die CDC-Untersuchung (12/2020 - 09/2022 | > 4.000 Teilnehmer)

In der CDC-geführten Multisite Clinical Assessment Study wurde das Risiko der ME/CFS-Entwicklung nach SARS-CoV-2-Infektionen mit anderen Erregern verglichen. Die Studie verwendete die IOM-Kriterien zur Diagnose von ME/CFS, die u.a. auch die Post-Exertionelle Malaise (PEM) umfassen. Die Forschenden fanden heraus, dass das Risiko, ME/CFS zu entwickeln, nach SARS-CoV-2-Infektionen nicht signifikant höher war als nach anderen Infektionen. Ungefähr 3-4 % der Betroffenen in beiden Gruppen litten ein Jahr nach ihrer Infektion an ME/CFS-ähnlichen Symptomen. Diese Erkenntnis verdeutlicht, dass SARS-CoV-2 nicht außergewöhnlich in seiner Fähigkeit ist, ME/CFS zu verursachen.

 

3. Studie „Increased risk of chronic fatigue syndrome following infection“ (2000 - 2017 | 395.811 Teilnehmer)

Die 17-Jahres-Kohortenstudie von Chang et al. untersuchte das Risiko der ME/CFS-Entwicklung. Die Kohorte basierte auf ICD-Codes, mit denen Betroffene identifiziert wurden, die Infektionen durch verschiedene Erreger wie Bakterien und Viren erlitten hatten. Die Post-Exertionelle Malaise (PEM) wurde in dieser Studie jedoch nicht explizit erwähnt.

 

Es wurde festgestellt, dass Erreger wie Borrelia burgdorferi (Lyme-Borreliose), Enteroviren und Mycobacterium tuberculosis ein signifikant höheres Risiko für die Entwicklung von ME/CFS bergen. Auffällig ist, dass Borrelia burgdorferi mit einer Hazard Ratio (HR) von 3,37 das höchste Risiko aufwies, gefolgt von Enteroviren (HR 1,86) und Mycobacterium tuberculosis (HR 1,45). Diese Ergebnisse zeigen, dass viele häufige Krankheitserreger ein deutlich höheres Risiko zur Auslösung von ME/CFS bergen als SARS-CoV-2.

 

4. Langzeitsymptome nach COVID-19 und anderen Atemwegsinfektionen (05/2020 - 10/2021 | 10.000 Teilnehmer)

Die COVIDENCE UK-Studie untersuchte die langfristigen Symptome bei Patienten, die entweder eine SARS-CoV-2-Infektion oder andere akute Atemwegsinfektionen (ARIs) durchgemacht hatten. Die Ergebnisse zeigten, dass sowohl Fatigue als auch Post-Exertionelle Malaise (PEM) in beiden Gruppen häufig auftraten. Interessanterweise war die Prävalenz von PEM bei den COVID-19-negativen Patienten sogar höher (24,4 %) als bei den COVID-19-positiven Patienten (16,3 %). Diese Ergebnisse untermauern die These, dass SARS-CoV-2 nicht einzigartig in seiner Fähigkeit ist, langfristige Symptome wie ME/CFS zu verursachen, sondern dass auch andere Atemwegsinfektionen ähnliche Auswirkungen haben können.

 

5. Die Rolle von Antibiotika in der Prävention von ME/CFS

Ein weiterer überraschender Befund aus der 17-Jahres-Studie von Chang et al. war die mögliche schützende Wirkung bestimmter Antibiotika gegen die Entwicklung von ME/CFS. Antibiotika wie Doxycyclin, Azithromycin und Levofloxacin könnten eine immunmodulatorische Wirkung haben, indem sie entzündliche Prozesse hemmen und proinflammatorische Zytokine wie TNF-α und IL-6 blockieren. Diese entzündungshemmenden Eigenschaften könnten langfristige Entzündungsreaktionen verhindern, die zu ME/CFS führen. Die Erkenntnisse zur Rolle von Antibiotika deuten darauf hin, dass diese Medikamente nicht nur gegen bakterielle Infektionen wirksam sind, sondern auch das Potenzial haben, das Risiko chronischer postinfektiöser Erkrankungen zu verringern.

 

6. Liste der Pathogene nach Wahrscheinlichkeit der ME/CFS-Auslösung

Basierend auf den Studienergebnissen kann die Wahrscheinlichkeit, dass die folgenden Pathogene ME/CFS auslösen, wie folgt geordnet werden:

 

1. Borrelia burgdorferi (Lyme-Borreliose): HR 3.37

2. Enterovirus: HR 1.86

3. Mycobacterium tuberculosis: HR 1.45

4. Candida: HR 1.43

5. Salmonella: HR 1.41

6. Staphylococcus aureus: HR 1.38

7. Influenza Virus: HR 1.67

8. Escherichia coli (E. coli): HR 1.17

9. Varicella-Zoster Virus (VZV): HR 1.09

10. SARS-CoV-2: Risiko für ME/CFS liegt bei etwa 2,8 - 4,5 % (HR liegt nicht vor)

     

Die Hazard Ratio (HR) misst in Studien das Risiko eines Ereignisses zwischen zwei Gruppen.

 

HR = 1 bedeutet gleiches Risiko in beiden Gruppen

HR > 1 zeigt ein höheres Risiko in der

untersuchten Gruppe

HR < 1 zeigt ein geringeres Risiko

 

Beispiel: Eine HR von 3,37 für ME/CFS nach Borrelia burgdorferi bedeutet, dass das Risiko, ME/CFS zu entwickeln, in dieser Gruppe 3,37-mal höher ist als in einer nicht infizierten Vergleichsgruppe.

 

 

7. Fazit

Obwohl Borrelia burgdorferi ein höheres individuelles Risiko für die Entwicklung von ME/CFS darstellt, relativiert sich dieses durch die deutlich geringere Infektionshäufigkeit im Vergleich zu SARS-CoV-2. Da sich SARS-CoV-2 weltweit weit verbreitet hat, ist die absolute Zahl der Menschen, die infolge einer COVID-19-Infektion ME/CFS entwickeln, potenziell höher, obwohl das individuelle Risiko möglicherweise geringer ist. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass die zukünftige Forschung nicht nur auf die Langzeitfolgen von SARS-CoV-2 fokussiert werden sollte, sondern auch andere Erreger verstärkt untersucht werden müssen. Postakute Infektionssyndrome (PAIS) sollten dabei verstärkt in den Fokus rücken, um die Mechanismen der ME/CFS-Entstehung besser zu verstehen und gezielte Behandlungsstrategien zu entwickeln.

 

Anmerkungen

1. SARS-CoV-2
Die Chang et al.-Studie ist eine 17-jährige Kohortenstudie, die vor dem Auftreten von SARS-CoV-2 durchgeführt wurde. Sie zeigt deutlich, dass Erreger wie Borrelia burgdorferi (Lyme-Borreliose), Enteroviren oder Tuberkulose ein höheres individuelles Risiko haben, eine ME/CFS-Erkrankung auszulösen, als SARS-CoV-2. Allerdings müssen wir auch berücksichtigen, dass das individuelle Risiko nicht das gesamte Bild widerspiegelt.

 

2. EBV
In den Studien, die analysiert wurden, wurde EBV nicht explizit erfasst. Stattdessen liegt der Fokus auf anderen häufigen Erregern. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass EBV durch andere Infektionen reaktiviert werden kann, was eine zentrale Rolle in der Krankheitsentstehung spielen könnte. Obwohl diese Reaktivierungen möglicherweise nicht vollständig in den vorliegenden Daten berücksichtigt wurden, könnte EBV dennoch indirekt eine wesentliche Rolle bei ME/CFS spielen, insbesondere durch die Reaktivierung bei anderen Infektionen.