Kurzzusammenfassung
ME/CFS-Betroffene kennen den ständigen Kampf, Aktivitäten so zu planen, dass sie nicht in den Push-Crash-Zyklus geraten. Eine effektive Methode, um dies zu verhindern, ist das Pacing mit Herzfrequenzüberwachung. Aber wie funktioniert das genau?
Warum die Herzfrequenz überwachen?
Bei ME/CFS wird die anaerobe Schwelle (der Punkt, an dem der Körper ohne Sauerstoff Energie produziert) oft schneller erreicht als bei gesunden Menschen. Wenn diese Schwelle überschritten wird, kann es zu einer Verschlechterung der Symptome kommen – der sogenannte Crash, ausgelöst durch die Post-Exertionelle Malaise (PEM).
Dabei handelt es sich um eine Verschlechterung des Gesundheitszustands nach zu viel Aktivität, begleitet von extremer muskulärer Fatigue und kognitiven Einbrüchen. Ziel des Pacing ist es, eure Aktivität unter dieser Schwelle zu halten und PEM zu vermeiden. Flare-Ups, also kurzfristige Verschlechterungen der Symptome, lassen sich so ebenfalls vermeiden.
Was sind Flare-Ups?
Flare-Ups im Kontext von ME/CFS sind kurzzeitige Verschlechterungen der Symptome, die häufig mehrmals täglich auftreten können. Sie sind weniger intensiv und dauern kürzer als ein Crash, treten jedoch plötzlich auf und können verschiedene Symptome wie kognitive oder muskuläre Fatigue betreffen. Flare-Ups verbessern sich oft nach kurzer Zeit wieder und sind nicht mit einer längerfristigen Verschlechterung verbunden, wie es bei einem Crash der Fall ist.
Welche Arten von PEM gibt es?
1. Sofortige PEM:
Diese Form tritt innerhalb von Minuten nach einer Aktivität auf. Schon kleine Alltagsaktivitäten wie Sitzen oder Stehen können dazu führen, dass ihr Schwindel, extreme muskuläre Fatigue und/oder
kognitive Probleme erlebt.
2. Kurzfristige PEM:
Sie entwickelt sich in den Stunden nach der Aktivität und dauert meist einige Tage an. Typisch sind starke muskuläre Fatigue, grippeähnliche Symptome und/oder mentale Fatigue.
3. Langfristige PEM:
Diese Form tritt Tage nach der Aktivität auf und kann Wochen bis Monate anhalten. Sie führt unter anderem zu schwerer muskulärer Fatigue und massiven Einschränkungen im Alltag.
Tipp:
Achtet auf eure Symptome wie Schwindel oder Atemnot – oft sendet der Körper Signale, bevor die Herzfrequenz den kritischen Wert erreicht! Eure individuelle Erholungszeit kann stark variieren, von Tagen bis hin zu Wochen. Beobachtet euer persönliches Muster, um Überanstrengung zu vermeiden.
Pacing mit Herzfrequenzüberwachung kann langfristig dazu beitragen, Crashs zu reduzieren und ein stabileres Leben mit ME/CFS zu führen.
Wissenschaftlicher Hintergrund | Herzfrequenzüberwachung im Detail
1. Einführung in das Herzfrequenz-basierte Pacing
Pacing mit Herzfrequenzüberwachung hilft dabei, die Aktivität so zu steuern, dass die Post-Exertionelle Malaise (PEM) bei ME/CFS-Betroffenen minimiert wird. Dies basiert auf der Überwachung der anaeroben Schwelle, die bei ME/CFS-Betroffenen schneller erreicht wird.
Was bedeutet das?
Der menschliche Körper nutzt zwei Hauptwege zur Energiegewinnung:
- Aerobe Energieproduktion: Hierbei wird Sauerstoff verwendet, um Energie aus Nährstoffen zu gewinnen. Dieser Prozess ist effizient und ermöglicht länger andauernde Aktivitäten.
- Anaerobe Energieproduktion: Wenn die Belastung zu hoch wird, schaltet der Körper auf anaerobe Energiegewinnung um, bei der Lactat (Milchsäure) entsteht. Dies führt schnell zu muskulärer Fatigue, da sich Lactat in den Muskeln ansammelt und die Leistungsfähigkeit stark abnimmt.
Bei ME/CFS-Betroffenen wird die anaerobe Schwelle deutlich schneller überschritten, was schwerwiegende Konsequenzen hat: Aktivitäten, die für gesunde Menschen leicht sind, können bei ME/CFS-Betroffenen zu schwerer muskulärer und kognitiver Fatigue und anderen Symptomen führen. Die genaue Überwachung der Herzfrequenz hilft, diese Schwelle nicht zu überschreiten.
2. Herzfrequenzüberwachung und die Bedeutung der anaeroben Schwelle
Die Überwachung der Herzfrequenz ist entscheidend, um körperliche Belastung in Echtzeit zu kontrollieren. Sobald die anaerobe Schwelle erreicht wird, wechselt der Körper von der aeroben zur anaeroben Energieproduktion. Dies führt bei ME/CFS-Betroffenen zu einer signifikanten Verschlechterung der Symptome und zu PEM. Um dies zu verhindern, ist es wichtig, die Herzfrequenz unter der anaeroben Schwelle zu halten.
3. Methoden der Herzfrequenzberechnung
Beide Methoden wurden von Mitgliedern der Workwell Foundation entwickelt. Die erste Methode basiert auf dem Paper von Snell et al. (2013) und wird nicht mehr empfohlen, ist jedoch noch häufig im Internet zu finden.
Die zweite Methode basiert auf dem Paper von Mateo et al. (2020) und wird als aktuelle Methode empfohlen. Wir zeigen Methode 1, da viele diese noch anwenden und sie häufig im Netz zu finden ist. Viele finden die Berechnung der maximalen Herzfrequenz bei Methode 2 als zu niedrig angesetzt.
Wir möchten jedoch betonen, dass es besser ist, die Herzfrequenz eher zu niedrig als zu hoch anzusetzen. Wenn Methode 1 für dich funktioniert, kannst du sie natürlich anwenden, jedoch empfehlen wir ausdrücklich Methode 2.
3.1 Methode 1 (2013, veraltet)
Diese Methode stammt aus dem Paper von Snell et al. (2013) und berechnet die maximale Herzfrequenz (MHF) anhand der Formel:
(220 - Alter) × 0,6 = maximale Herzfrequenz.
Beispiel für eine 33-jährige Person:
(220 - 33) × 0,6 = 112,2 bpm.
⚠️ Obwohl diese Methode noch häufig online zu finden ist, wird sie nicht mehr empfohlen, da sie nicht präzise genug ist.
3.2 Methode 2 (2020, aktuell)
Diese Methode basiert auf dem Paper von Mateo et al. (2020) und berücksichtigt den morgendlichen Ruhepuls. Um den Ruhepuls korrekt zu messen, sollte er an sieben aufeinanderfolgenden Tagen direkt nach dem Aufwachen gemessen und der Durchschnitt berechnet werden.
Formel:
Ruhepuls + 15 bpm = maximale Herzfrequenz.
Beispiel: Eine Person mit einem Ruhepuls von 75 bpm hat eine maximale Herzfrequenz von 90 bpm (75 + 15). Diese Herzfrequenz sollte während der Aktivität nicht länger als zwei Minuten überschritten werden.
Wichtig:
Der Wert von „Ruhepuls + 15“ ist ein Basiswert und sollte als Richtwert betrachtet werden. Im Laufe der Zeit kann dieser Wert jedoch auf Basis der Symptomatik und individuellen Erfahrung vorsichtig nach oben oder unten angepasst werden. Es ist entscheidend, dass ME/CFS-Betroffene auf ihre Symptome und Warnsignale hören.
Hinweis bei autonomer Dysfunktion:
Wenn der morgendliche Ruhepuls aufgrund von autonomen Störungen oder erhöhtem Adrenalinspiegel höher als normal ist, empfiehlt es sich, dreimal am Tag den Ruhepuls zu messen, jeweils nach zehn Minuten Liegen. Diese 21 Messwerte werden dann summiert und der Durchschnitt wird verwendet, um den tatsächlichen Ruhepuls zu bestimmen.
3.3 Beispielrechnung für 21 Messwerte
Wenn aufgrund von autonomen Dysfunktionen (z.B. erhöhter Adrenalinspiegel) der Ruhepuls morgens stark erhöht ist, empfiehlt es sich, dreimal täglich den Ruhepuls zu messen, nachdem man mindestens zehn Minuten gelegen hat.
Beispiel:
- Messung 1: 75 bpm
- Messung 2: 78 bpm
- Messung 3: 73 bpm
- … (weitere 18 Messungen)
Summe der 21 Messungen = 1580 bpm
Durchschnittlicher Ruhepuls = 1580 / 21 = 75.24 bpm.
Dieser Wert wird dann als Ruhepuls genutzt, um die maximale Herzfrequenz zu berechnen.
4. Energiehaushalt und Grenzen: Was bedeutet Pacing wirklich?
Im Webinar “Heart Rate Biofeedback for Myalgic Encephalomyelitis: From Physiology to Practice” (2021) betonte Mark Van Ness, dass es manchmal unvermeidbar ist, über die persönliche Energiegrenze hinauszugehen, weil das Leben es erfordert. Er vergleicht diese Situation mit einer Kreditkarte: Man „leiht“ sich Energie, muss aber später mit Symptomen – den „Zinsen“ – zahlen. Van Ness betont außerdem, dass es wichtig ist, auch öfter mal Nein zu sagen, um Energie zu sparen und einen Crash zu vermeiden.
4.1 Alarm setzen und Grenzen sichtbar machen
Todd Davenport ergänzt, dass es sinnvoll ist, einen Alarm auf der Uhr einzustellen, der einen warnt, wenn man die individuell berechnete maximale Herzfrequenz erreicht. Diese Erinnerung ist auch für das Umfeld wichtig. Freunde, Familie und Kollegen sollten miterleben, wie oft dieser Alarm ertönt, um ein besseres Verständnis für die Herausforderungen von ME/CFS und die individuellen Grenzen zu entwickeln.
5. Individuelle Symptome beachten
Neben der Herzfrequenzüberwachung ist es entscheidend, auf individuelle Symptome wie Schwindel, Atemnot oder muskuläre Fatigue zu achten. Diese Symptome variieren stark zwischen den Betroffenen. Es ist wichtig, dass jede/r Betroffene auf die eigenen Warnsignale achtet, da diese sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Kombination aus Herzfrequenzüberwachung und Symptombeobachtung ist der Schlüssel, um Überanstrengung und PEM zu vermeiden.
Tipp:
Manchmal kann es sinnvoll sein, Aktivitäten im Sitzen oder Liegen auszuführen, um die Herzfrequenz niedrig zu halten und Überlastung zu vermeiden. Tätigkeiten wie Kochen, Zähneputzen oder Telefonieren können dadurch weniger anstrengend gestaltet werden.
6. Herzfrequenzvariabilität (HRV)
Die Herzfrequenzvariabilität (HRV) ist ein beweglicher Wert, der über den Tag hinweg schwankt. Eine niedrige HRV kann auf eine schlechte Erholung hinweisen, während eine höhere HRV auf eine gute Erholung schließen lässt. Es wurde im Webinar erklärt, dass es möglich ist, eine erhöhte HRV zu haben, obwohl man sich noch im Crash befindet. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Körper sich langsam erholt und in die Erholungsphase übergeht.
7. Herausforderung der Herzfrequenzüberwachung bei PoTS und Beta-Blockern
Posturales Tachykardie-Syndrom (PoTS) ist eine Erkrankung, bei der die Herzfrequenz beim Wechsel in eine aufrechte Position stark ansteigt, ohne dass dies durch körperliche Aktivität bedingt ist. Beta-Blocker hingegen senken die Herzfrequenz, was die Bestimmung der optimalen Belastungsgrenze erschwert.
Anpassungen und Tipps:
- Trotz dieser Herausforderungen kann „Ruhepuls + 15“ als Ausgangspunkt dienen, muss aber mit Vorsicht angepasst werden.
- Individuelle Anpassungen basierend auf Erfahrung und Symptomatik sind hier besonders wichtig.
Zusätzlicher Hinweis: Ein Brustgurt zur Herzfrequenzüberwachung ist in der Regel genauer als eine Uhr, da er die Herzfrequenz über Elektroden direkt misst. Dies ist besonders bei ME/CFS-Betroffenen wichtig, da eine genaue Überwachung entscheidend ist, um die anaerobe Schwelle nicht zu überschreiten.
Fazit
Die Berechnung der maximalen Herzfrequenz lautet:
Ruhepuls + 15 + individuelle Symptomatik + eigene Erfahrung = maximale Herzfrequenz.
Es ist wichtig, auf die eigenen Symptome zu achten und die Herzfrequenz nicht zu überschreiten, um langfristig Crashs zu vermeiden und den Gesundheitszustand zu stabilisieren.
Quellen
Dieser Beitrag wurde auf Grundlage eines Webinars und wissenschaftlichen Publikationen der Workwell Foundation erstellt.
Publikationen
Snell CR, SR Stevens, TE Davenport, und JM VanNess 2013. Discriminative validity of metabolic and workload measurements for identifying people with chronic fatigue syndrome.
Physical Therapy 83:1484-92 (2013)
Mateo U, L Chu, S Stevens, J Stevens, CR Snell, T Davenport 2020. Post-exertional symptoms distinguish myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome subjects from healthy controls. Work 66: 265-75 (2020)
Webinar
Webinar 11.02.21
Heart Rate Biofeedback for Myalgic Encephalomyelitis:
From Physiology to Practice
Mark Van Ness, PhD
Todd Davenport, PT, DPT, MPH, OCS
Workwell Foundation