Kurzbeschreibung
Das Broken Bridge Syndrome beschreibt eine strukturelle und funktionelle Entkopplung zwischen Hirnstamm und Kleinhirn – insbesondere im Bereich der cerebellären Pedunculi – und wurde erstmals vom Hamburger Wissenschaftler Dr. Christof Ziaja im Kontext vom Post-COVID-Syndrom (PCS) identifiziert.
Die cerebellären Pedunculi kann man sich vorstellen wie mehrspurige Datenautobahnen im Gehirn. Sie verbinden das Kleinhirn mit dem Hirnstamm – zwei zentrale Steuerzentren des Körpers. Über diese „Autobahnen“ rasen ständig Informationen: über Bewegung, Gleichgewicht, Körperwahrnehmung, Kreislauf, Atmung und mehr.
Wenn diese Leitungen wie beim Broken Bridge Syndrome beschädigt oder verengt sind, stauen sich die Signale oder kommen nur noch fehlerhaft an. Das kann dazu führen, dass der Körper falsche oder verspätete Befehle bekommt. Mithilfe hochauflösender MRT-Analysen und Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) konnten signifikante Volumenverluste und Leitungsstörungen nachgewiesen werden, die mit Leitsymptomen wie Fatigue, Kreislaufdysregulationen, Dysautonomie, Propriozeptionsstörungen (gestörte Wahrnehmung der eigenen Körperlage und Bewegung im Raum) und kognitiven Einschränkungen korrelieren.
Die Ziaja-Studie zeigt, dass diese neuroanatomischen Veränderungen vor allem bei schwer erkrankten PCS-Betroffenen auftreten, mit Überschneidungen zu bekannten Mustern aus der ME/CFS-Forschung sowie anderen postinfektiösen Syndromen (u. a. EBV, HHV-6, Borreliose). Zentrale Befunde umfassen bis zu 30 % Volumenreduktion, veränderte Liquorzirkulation, autoimmunologisch wirksame Antikörper und Hinweise auf chronische Neuroinflammation.
Erste therapeutische Ansätze zeigen Potenzial, sind jedoch noch nicht zugelassen.
Immer deutlicher wird: Viele der oft als unspezifisch geltenden Beschwerden haben eine messbare, biologische Grundlage. Die neuen Erkenntnisse könnten nicht nur den Weg zu zielgerichteten Therapien ebnen, sondern auch die Grundlage für eine objektivierbare Diagnostik schaffen. Ein möglicher Wendepunkt für die Versorgung von PCS und ME/CFS.
Im Detail
1. Das Post-COVID-Syndrom (PCS) beginnt im Hirnstamm
PCS – auch Long-COVID-Syndrom genannt – betrifft Millionen Menschen weltweit. Die Betroffenen leiden unter einer Vielzahl von Symptomen wie Fatigue, Konzentrationsstörungen, Kreislaufdysregulationen, Temperaturinstabilität oder gestörter Verdauung. Lange blieben diese Beschwerden medizinisch schwer greifbar – doch aktuelle Forschungen rücken nun eine zentrale Schaltstelle unseres Nervensystems in den Fokus: den Hirnstamm (Ziaja et al., 2025).
Der Hirnstamm ist eine evolutionär sehr alte Region im Gehirn, die grundlegende Körperfunktionen steuert: etwa Atmung, Schlaf-Wach-Rhythmus, Herzfrequenz und Energiehaushalt. Genau hier setzt die Forschung des Hamburger Wissenschaftlers Dr. Christof Ziaja an. Er und sein Team entdeckten mithilfe hochauflösender MRT-Analysen strukturelle Schäden an den Verbindungsbrücken zwischen Hirnstamm und Kleinhirn – den sogenannten cerebellären Pedunculi. Sie sprechen von einem „Broken Bridge Syndrome“: einer funktionellen Entkopplung im zentralen Nervensystem (Ziaja et al., 2025).
Diese gestörte Kommunikation im Hirnstamm könnte erklären, warum PCS-Betroffene ähnliche Symptome wie ME/CFS-Betroffene zeigen oder gar nach sechs Monaten die Diagnosekriterien von ME/CFS erfüllen (Scheibenbogen et al., 2021).
2. Dr. Christof Ziaja und sein Forschungsrahmen
Dr. Christof Peter Ziaja forscht seit Beginn der Pandemie an den neurologischen Langzeitfolgen von SARS-CoV-2. Als Sportwissenschaftler mit interdisziplinärer Ausrichtung arbeitet er am Universitätsklinikum Hamburg sowie als Gastwissenschaftler am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Unterstützt wird er von einem Team aus Neurologen, Bildgebungsspezialisten und Immunologen – u. a. in Kooperation mit den Universitäten Stanford und Yale. Die Studienkohorte setzte sich aus Betroffenen zusammen, die bereits in früheren Studien im ME/CFS-Kontext bekannt waren (Hamburger Abendblatt, 2025).
Ursprünglich zielte die Forschung darauf ab, Zusammenhänge mit Entzündungen zu analysieren. Ausgewertet wurden MRT-Scans und Hirnstromdaten. Der entscheidende Befund war ein reiner Zufallsfund. In rund 70 % der untersuchten Scans wurde eine signifikante Volumenverkleinerung in bestimmten Hirnregionen beobachtet – etwa im Nucleus accumbens und angrenzenden Arealen wie dem Hypothalamus (Bewegung, Schlaf-Wach-Rhythmus, Energieverteilung). Diese Veränderungen waren weder bei gesunden Personen noch bei Personen mit anderen Erkrankungen nachweisbar. Teilweise zeigten sich bis zu 30 % Volumenverlust – eine potenziell wegweisende Grundlage für künftige diagnostische Biomarker (Hamburger Abendblatt, 2025).
3. Das Broken Bridge Syndrome: Eine neurologische Entkopplung
Das von Ziaja geprägte „Broken Bridge Syndrome“ beschreibt eine funktionelle und strukturelle Entkopplung zwischen dem Hirnstamm und dem Kleinhirn, vor allem im Bereich der cerebellären Pedunculi – den Nervenleitungsbahnen zwischen diesen Regionen. Bei Betroffenen zeigten sich diese „Brücken“ im MRT oft geschrumpft oder verformt (Ziaja et al., 2025).
Der Hirnstamm reguliert unbewusste Körperprozesse wie Atmung, Blutdruck oder Temperatur. Das Kleinhirn steuert Bewegungen, Gleichgewicht und sogar kognitive Leistungen. Wenn die Verbindung beider Strukturen gestört ist, kommt es zu Fehlregulationen, wie sie für PCS typisch sind.
Ziajas Team vermutet, dass vergleichbare Entkopplungsprozesse auch bei anderen postinfektiösen Erkrankungen wie ME/CFS durch Trigger wie EBV und andere Herpesviren auftreten könnten – ein übergreifendes Modell für neuroinflammatorisch vermittelte Fatigue-assoziierte Erkrankungen (Loebel et al., 2016).
4. Die betroffenen Hirnregionen: Schaltzentralen zwischen Körper und Bewusstsein
Betroffen sind vor allem:
- Hirnstamm (Pons, Medulla, Mittelhirn): Steuerung vegetativer Funktionen
- Kleinhirn (Cerebellum): Motorik, Kognition, emotionale Regulation
- Cerebelläre Pedunculi: Verbindungsbahnen zwischen Hirnstamm und Kleinhirn
Schädigungen an diesen „Brücken“ führen zu einer gestörten Reizverarbeitung: zwischen Wahrnehmung, zentraler Steuerung und körperlicher Reaktion (Ziaja et al., 2025). Die MRT-Ergebnisse deuten auf eine gestörte Reizintegration im zentralen Nervensystem hin, wie sie auch bei ME/CFS beschrieben wird (Scheibenbogen et al., 2021; Loebel et al., 2016).
5. Bildgebende Befunde: Volumenveränderung und Leitungsstörungen
5.1 Volumenveränderungen im MRT: Befunde & Messdaten
Die MRT-gestützte Volumetrie zeigte signifikante Schrumpfungen der superior cerebellären Pedunculi – bei PCS-Betroffenen im Mittel 219 mm³, gegenüber 347 mm³ in der Kontrollgruppe (p < .001; Hedges’ g = 3.31). Auch Formatio reticularis und dorsaler Raphekern waren betroffen. Diese zentralen Strukturen steuern vegetative Funktionen wie Wachheit, Kreislauf, Schlaf und Serotoninverarbeitung (Ziaja et al., 2025).
Die Befunde korrelieren stark mit Fatigue, Schlafstörungen, Stimmungslabilität und vegetativer Dysfunktion – Symptombilder, die auch in der ME/CFS-Forschung beschrieben werden (Scheibenbogen et al., 2021; Naviaux et al., 2016).
5.2 Funktionelle Auswirkungen: Signalstörungen & Reizverarbeitung
Neben der Schrumpfung zeigten sich auch Funktionsdefizite in der weißen Substanz: Die fraktionelle Anisotropie (FA) im mittleren Kleinhirnstiel (middle cerebellar peduncle) war bei den Betroffenen deutlich vermindert (0,39 im Vergleich zu 0,45 bei Gesunden).
Dies deutet darauf hin, dass die Nervenleitungsbahnen in diesem Bereich gestört sind – ähnlich wie bei einem schlecht isolierten Kabel, durch das elektrische Signale nur noch verzögert oder verzerrt weitergeleitet werden (Ziaja et al., 2025).
Diese Region ist entscheidend für Bewegungskoordination, Körperwahrnehmung und kognitive Rückkopplungsschleifen. Viele Betroffene berichten über Gangunsicherheit, verlangsamtes Denken und gestörte Tiefensensibilität. Solche DTI-Veränderungen wurden auch bei ME/CFS sowie postinfektiösen Zuständen nach EBV und Influenza beschrieben (Loebel et al., 2016; Scheibenbogen et al., 2021).
6. Neuroinflammation und Autoimmunität im Hirnstamm
Zentrale Befunde der Studie von Ziaja et al. deuten auf eine ausgeprägte Entzündungsaktivität im Hirnstamm und angrenzenden Strukturen hin. Im Liquor von PCS-Betroffenen wurden erhöhte Konzentrationen proinflammatorischer Zytokine nachgewiesen – darunter Interleukin-1β (IL-1β), Interleukin-6 (IL-6) und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α). Diese Botenstoffe sind zentrale Treiber neuroinflammatorischer Prozesse im zentralen Nervensystem (ZNS) (Ziaja et al., 2025; Dotan et al., 2021).
Darüber hinaus fanden sich funktionelle Autoantikörper gegen β2-Adrenozeptoren und M2-Acetylcholinrezeptoren. Rezeptoren, die eine Schlüsselrolle in der Regulation des vegetativen Nervensystems (VNS oder ANS) spielen. Diese Autoantikörper können die neuronale Reizweiterleitung beeinträchtigen und entzündliche Gewebeschäden begünstigen – besonders im sensiblen Bereich des Hirnstamms, wo vegetative Steuerzentren, Kreislaufkontrolle, Schlafregulation und Energieverteilung koordiniert werden (Scheibenbogen et al., 2021).
Die Entzündungsaktivität scheint sich dabei vor allem im Bereich des vierten Ventrikels zu konzentrieren – dort, wo auch die cerebellären Pedunculi verlaufen. Eine gestörte Liquorzirkulation könnte die Akkumulation immunaktiver Substanzen begünstigen und so zu lokalen Schäden führen. Ziaja beschreibt zudem eine Häufung von weißen Läsionen in der MRT. Vergleichbare Veränderungen kennt man aus MS-ähnlichen Erkrankungen. Dies stützt die Einordnung von PCS (und möglicherweise auch ME/CFS) als entzündlich-neurodegenerative Erkrankung (Ziaja et al., 2025; Hamburger Abendblatt, 2025).
Auch in ME/CFS, bei EBV-Folgeerkrankungen und postbakteriellen Syndromen wie Neuroborreliose wurden vergleichbare Autoantikörperprofile und entzündliche Signalwege beschrieben – ein Hinweis auf gemeinsame pathophysiologische Grundlagen (Loebel et al., 2016; Scheibenbogen et al., 2021).
7. Die Rolle des Liquors und der vierten Hirnkammer
Ein auffälliger Befund betrifft den vierten Hirnventrikel, eine zentrale Liquorkammer im Hirnstamm. Die cerebellären Pedunculi, die im Fokus des Broken Bridge Syndrome stehen, liegen in direkter Nachbarschaft. Ziaja vermutet, dass eine gestörte Liquorzirkulation in diesem Bereich zu einer lokalen Ansammlung immunaktiver Substanzen führen könnte – darunter Zytokine und Autoantikörper (Ziaja et al., 2025).
In der MRT-Bildgebung wurden bei Betroffenen Verformungen und Einziehungen der Ventrikelwände beobachtet: ein Hinweis auf chronischen Druck oder strukturelle Schrumpfung. Eine eingeschränkte Liquordrainage könnte zudem die Ausschwemmung neurotoxischer Stoffe behindern. Ein Mechanismus, der auch in der ME/CFS-Forschung beschrieben wird (Scheibenbogen et al., 2021).
Ähnliche Liquordynamik-Störungen wurden bei postviralen Zuständen nach EBV oder Herpesviren sowie bei Neuroborreliose beschrieben (Loebel et al., 2016).
8. Symptomatische Muster und klinische Überschneidungen mit ME/CFS
8.1 Symptomkorrelate: Fatigue, Dysautonomie, Propriozeption
Die beobachteten strukturellen und funktionellen Veränderungen stehen in engem Zusammenhang mit den häufigsten Symptomen: Fatigue, „post-exertional worsening“ (Post-Exertionelle Malaise (PEM) wurde in der Publikation nicht explizit genannt), Dysautonomie, gestörte Propriozeption (Ziaja et al., 2025).
Besonders bei Betroffenen mit starker Fatigue und belastungsabhängiger Verschlechterung („post-exertional worsening“ – analog zur PEM bei ME/CFS) zeigten sich auffällige MRT-Befunde: geschrumpfter superior cerebellar peduncle und reduzierte axonale Leitfähigkeit im middle cerebellar peduncle. Häufig waren Symptome wie Unsicherheit beim Gehen, verzögerte Reizverarbeitung bei Lagewechseln oder verminderte Tiefensensibilität.
Diese Symptomkonstellation ist auch aus ME/CFS sowie aus Erkrankungen nach EBV, HHV-6 oder Borreliose bekannt – ein Hinweis auf eine zentrale Schwachstelle in der sensomotorischen Integration (Scheibenbogen et al., 2021; Loebel et al., 2016).
8.2 Kohortenbeschreibung und Nähe zu ME/CFS
Die von Ziaja et al. untersuchte Kohorte umfasste 44 weibliche PCS-Betroffene, die über mindestens 12 Wochen hinweg persistierende, teils schwere Symptome aufwiesen. 15 der Betroffenen waren bettlägerig oder stark bewegungseingeschränkt. Die Studienkohorte setzte sich aus Betroffenen zusammen, die bereits in früheren Studien im ME/CFS-Kontext bekannt waren (Hamburger Abendblatt, 2025). Die Auswahl folgte den NICE-Kriterien für PCS, wobei Vorerkrankungen systematisch ausgeschlossen wurden (Ziaja et al., 2025).
Symptomatisch und bildgebend zeigte sich bei dieser Subgruppe eine hohe Nähe zu postinfektiösen Erkrankungen wie ME/CFS durch andere Auslöser als SARS-CoV-2, insbesondere nach EBV, Influenza oder Dengue. Merkmale waren u. a. PEM, Fatigue, vegetative Störungen, Propriozeptionsdefizite (gestörte Wahrnehmung der eigenen Körperlage und -bewegung) und Veränderungen im Hirnstammbereich.
Auch wenn keine formale ME/CFS-Diagnose nach CCC/ICC gestellt wurde, sprechen sowohl klinisches Bild als auch MRT-Befunde für eine substanzielle Überschneidung mit ME/CFS.
9. Bildgebung & Biomarker: Diagnosepotenzial und klinische Anwendung
Die MRT-gestützten Befunde – darunter signifikante Schrumpfungen im superior und middle cerebellar peduncle sowie Veränderungen im dorsalen Raphekern und der Formatio reticularis – könnten künftig als objektivierbare Marker zur Diagnostik und Verlaufskontrolle dienen (Ziaja et al., 2025).
In Kooperation mit der Yale School of Medicine werden aktuell weitere Reproduzierbarkeitsstudien durchgeführt. Besonders relevant ist die Kombination aus Bildgebung, DTI-Daten und klinischer Symptomkorrelation – z. B. bei Betroffenen mit „post-exertional worsening“ oder Dysautonomie.
Auch in der ME/CFS-Forschung wurden ähnliche Ansätze verfolgt, u. a. mit Fokus auf den Hirnstamm, die Fornix-Region und den Insula-Kortex (Naviaux et al., 2016; Scheibenbogen et al., 2021). Das könnte eine differenzierte neurobiologische Einordnung ermöglichen – auch zwischen ME/CFS und PCS.
10. Therapeutische Ansätze und Ausblick
10.1 Immunmodulatorische Therapieansätze und pharmakologische Perspektiven
Ziaja und sein Team sehen in den immunologischen Befunden – v. a. den Autoantikörpern gegen β2- und M2-Rezeptoren – einen möglichen therapeutischen Angriffspunkt: die gezielte Modulation neuroinflammatorischer Prozesse im zentralen Nervensystem (Ziaja et al., 2025).
Erste Testreihen, u. a. an der Stanford University, zeigten vielversprechende Wirkungen von CCR5-Antagonisten wie Maraviroc oder Leronlimab. Auch T-Lymphozyten-Inhibitoren werden diskutiert, insbesondere bei Betroffenen mit passendem Antikörperprofil (Hamburger Abendblatt, 2025).
Diese Wirkstoffe sind derzeit nur in Studien oder Spezialkliniken verfügbar. Dennoch zeigen sie das Potenzial einer personalisierten, immunologisch basierten Therapie auch bei ME/CFS oder EBV-assoziierten Autoimmunprozessen (Scheibenbogen et al., 2021).
10.2 Ausblick auf zukünftige Therapien
Dr. Ziaja betont, dass aktuell eine Validierung der MRT- und Liquor-Befunde gemeinsam mit einem Forschungsteam an der Yale University läuft. Ziel ist es, die bisherigen Ergebnisse – insbesondere die strukturellen Veränderungen im Hirnstamm und die auffälligen Immunprofile – in einer größeren, unabhängigen Kohorte zu bestätigen. Gelingt dieser Schritt, könnten die Bildgebungsbefunde nicht nur als diagnostischer Biomarker dienen, sondern auch den Weg für gezielte Behandlungsansätze ebnen (Ziaja et al., 2025).
Im Hamburger Abendblatt (2025) spricht Ziaja von einem möglichen „Wendepunkt in der Behandlung“: „Spätestens Ende 2025 könnten erste Medikamente zur Verfügung stehen – bei Long-COVID, Post-Vac und ME/CFS.“
10.2.1 Therapieoptionen im Überblick
CCR5-Antagonisten (z. B. Maraviroc, Leronlimab)
- Diese Wirkstoffe blockieren den CCR5-Rezeptor, ein kleines Protein auf der Oberfläche von Immunzellen, das an der Steuerung von Entzündungsprozessen beteiligt ist.
- Bei PCS und ME/CFS zeigt sich, dass dieser Rezeptor bei manchen Betroffenen überaktiv ist, was zu chronischer Entzündung im Gehirn führen kann.
- CCR5-Antagonisten wie Maraviroc (ursprünglich bei HIV verwendet) können diesen Rezeptor „abschalten“ und dadurch entzündliche Überreaktionen bremsen.
- In kleinen Pilotstudien, etwa an der Stanford University, kam es bei Betroffenen zu spürbaren Verbesserungen, z. B. bei Fatigue, Kognition und Kreislaufdysregulationen.
Leronlimab
- Ein monoklonaler Antikörper, der ebenfalls auf CCR5 zielt.
- Er wurde ursprünglich für HIV und Krebs entwickelt, zeigt aber in ersten Studien auch Wirkung bei neuroinflammatorischen Erkrankungen.
- Laut Ziaja und seinen Partnern an Stanford könnten beide Substanzen besonders bei Betroffenen mit passenden Autoantikörpern oder Zytokinmustern hilfreich sein.
T-Lymphozyten-Inhibitoren
- Diese Medikamente hemmen eine bestimmte Gruppe von Immunzellen – die sogenannten T-Zellen, die bei Autoimmunprozessen eine wichtige Rolle spielen.
- Ziaja erwähnt im Hamburger Abendblatt, dass Antikörpertherapien gegen überaktive T-Zellen in Einzelfällen ebenfalls Wirkung gezeigt hätten.
- Ziel ist es, das überaktive Immunsystem zu beruhigen, ohne es komplett zu unterdrücken – eine Art „Feintuning“.
11. Bedeutung für klinische Praxis, Wissenschaft und Anerkennung
Die Ergebnisse markieren einen möglichen Wendepunkt im Verständnis postinfektiöser Erkrankungen. Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet das: Viele Symptome von PCS und ME/CFS lassen sich nicht länger als psychosomatisch interpretieren, sondern sind Ausdruck nachweisbarer neuroinflammatorischer Veränderungen (Ziaja et al., 2025; Matschke et al., 2020).
Auch die Rolle der Psychiatrie muss neu gedacht werden: Psychische Begleiterkrankungen können auftreten, sind aber nicht primär ursächlich. Die bisherigen Deutungen über somatoforme Störungen oder Stressreaktionen geraten durch die neurobiologischen Befunde zunehmend unter Druck.
Für die Forschung heißt das: Klassifikationen wie ME/CFS, PCS oder EBV-Folgesyndrome sollten stärker als Spektrum neuroimmunologischer Multisystemerkrankungen verstanden werden.
Langfristig könnten die Ergebnisse auch in leistungsrechtliche Regelwerke (z. B. Pflegegrad, Reha, Erwerbsfähigkeit) einfließen – ein Schritt zu mehr Anerkennung und Versorgungssicherheit für Betroffene (Hamburger Abendblatt, 2025).
12. Kritische Einordnung & Limitationen
Trotz der vielversprechenden Ergebnisse weist die Studie von Ziaja et al. mehrere Limitationen auf. Die Kohorte bestand ausschließlich aus weiblichen PCS-Betroffenen – eine Übertragbarkeit auf männliche oder nicht-binäre Personen ist noch nicht gesichert. Die Stichprobengröße (n = 44) war moderat.
Darüber hinaus liefern MRT-Volumetrie und DTI keine funktionellen Aussagen im engeren Sinne, sondern zeigen strukturelle Veränderungen. Ob diese ursächlich für die Symptome sind oder sekundäre Folgeprozesse darstellen, ist Gegenstand weiterer Forschung (Ziaja et al., 2025).
Zudem wurde die Studie bislang nicht peer-reviewed, sondern als Preprint veröffentlicht, d. h. eine unabhängige Validierung steht aus.
Literaturverzeichnis
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- Scheibenbogen, C. et al. (2021). Autoantibodies in ME/CFS and Post-COVID Syndromes. Front. Neurol., 12, 687982.
- Matschke, J. et al. (2020). Neuropathology of patients with COVID-19 in Germany. Lancet Neurology, 19(11), 919–929. https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30308-2
- Dotan, A. et al. (2021). The SARS-CoV-2 as an instrumental trigger of autoimmunity. Autoimmun. Rev., 20(4), 102792. https://doi.org/10.1016/j.autrev.2021.102792
- England, J.T. et al. (2020). Interleukin-6 and the COVID-19 cytokine storm syndrome. Eur. Respir. J., 56(4), 2003006. https://doi.org/10.1183/13993003.03006-2020
- Radke, S. et al. (2024). Proteomic and transcriptomic profiling of brainstem tissues in COVID-19. Nat. Neurosci., 27(3), 409–420. https://doi.org/10.1038/s41593-024-01573-y
- Kruse, L. et al. (2022). Functional autoantibodies against GPCRs in Long COVID. Int. J. Mol. Sci., 23(13), 7209. https://doi.org/10.3390/ijms23137209
- Lauterbach, J. (2025). Covid-Forscher gelingt Durchbruch – Interview mit Dr. Christof Ziaja. Hamburger Abendblatt, April 2025. https://www.abendblatt.de/hamburg/eimsbuettel/article408749305/long-covid-hamburger-forscher-gelingt-durchbruch-bahnbrechend.html