Kurzeinführung zu ME/CFS und PEM
Was ist ME/CFS?
Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), ICD-10-Code: G93.3, ist eine komplexe, chronische Multisystemerkrankung. Sie tritt häufig nach Infektionen wie Influenza, infektiöser Mononukleose, COVID-19 oder anderen Triggern wie Operationen und gelegentlich nach Impfungen auf. ME/CFS betrifft das zentrale und autonome Nervensystem, das Immunsystem und den Stoffwechsel. Betroffene leiden unter einer erhöhten Sensitivität gegenüber Belastungen sowie zahlreichen Komorbiditäten.
Post-Exertionelle Malaise (PEM)
Das Kernmerkmal von ME/CFS ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), die aus vier zentralen Charakteristika besteht: Belastungsintoleranz, Symptomexazerbation, Verschlechterung des Allgemeinzustands und einer physiologischen Aktivitäts- und Erholungsdysfunktion. Trotz Ruhe kann der Körper nicht regenerieren. Diese belastungsinduzierte, meist zeitverzögerte (bis zu 72 Stunden) Reaktion führt zu einem sogenannten „Crash“ – einer schweren Energiekrise, in der der Körper nicht mehr auf weitere Belastungen reagieren kann. Neben körperlicher, kognitiver, emotionaler, sensorischer und orthostatischer Belastung können auch Infektionen, bestimmte Medikamente und Operationen das Risiko eines PEM-induzierten Crashs erhöhen.
Anästhesie-Risiken und besondere Herausforderungen
ME/CFS-Betroffene reagieren häufig hypersensitiv auf Operationen und Anästhesieverfahren, was ein erhöhtes Risiko für Komplikationen mit sich bringt. Spezifische Herausforderungen umfassen:
- Beeinträchtigung des Blutflusses und der Sauerstoffversorgung: Eingriffe können die Perfusion und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn stark beeinträchtigen, was zur Verschlechterung von kognitiver und muskulärer Fatigue führen kann.
- Probleme der Thermoregulation und Blutdruckkontrolle: Funktionsstörungen im Hypothalamus und eine gestörte Regulation des autonomen Nervensystems erschweren die Kontrolle von Körpertemperatur und Blutdruck. Unter Anästhesie kann dies zu Hypothermie oder Hypotonie führen.
- Empfindlichkeit gegenüber Narkosemitteln: ME/CFS-Betroffene weisen oft eine verstärkte Sensitivität gegenüber Medikamenten auf. Narkosemittel können eine stärkere Wirkung auf Transmittersysteme und die neuromuskuläre Impulsübertragung haben, was Symptome wie kardiale Arrhythmien oder Histamin-Reaktionen (Flushes) auslösen kann. Dies verstärkt die bestehende Erholungsdysfunktion.
- Mastzellaktivierung und Histaminfreisetzung: Bei einigen ME/CFS-Betroffenen tritt ein Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) auf, was das Risiko allergischer Reaktionen und Histamin-Flushes erhöht. Histaminfreisetzende Medikamente sollten daher nach Möglichkeit vermieden werden.
Allgemeine Anästhetika-Empfehlungen
Lokalanästhetika: Das in Lokalanästhetika enthaltene Adrenalin kann die Symptome von ME/CFS verstärken. Es wird empfohlen, ausschließlich adrenalinfreie Lokalanästhetika zu verwenden. Wenn Lidocain erforderlich ist, sollte es sparsam und ohne Adrenalin verabreicht werden.
Allgemeinanästhetika: Einige Betroffene erholen sich nach einer Vollnarkose langsamer, bei anderen kann sie jedoch zu einer dauerhaften Verschlechterung führen. Der Einsatz von hepatotoxischen Anästhetika wie Halothan sollte vermieden werden, da sie das Risiko einer Reaktivierung latenter Herpesviren und einer Hepatitis erhöhen können.
Empfohlene Substanzen für die Anästhesie
- Propofol (Diprivan®) zur Einleitung
- Midazolam und Fentanyl (kurzwirksames Narkotikum)
- Antiemetikum während der Anästhesie
- Kombination aus Lachgas, Sauerstoff und Isofluran (Forene®) zur Aufrechterhaltung der Narkose
Hinweis: Lachgas sollte generell bei ME/CFS und insbesondere bei Betroffenen mit Chemikaliensensitivität (MCS) mit Vorsicht eingesetzt werden.
Präoperatives Flüssigkeits- und Elektrolytmanagement
Bei ME/CFS-Betroffenen sollten die Serum-Magnesium- und Serum-Kaliumspiegel präoperativ geprüft und angepasst werden, um das Risiko von Herzrhythmusstörungen während der Narkose zu minimieren. Eine Unterversorgung kann zu Komplikationen führen.
Empfohlene Verabreichung:
- Orales Kalium: 10 mEq oder 750 mg zweimal täglich
- Magnesiumsulfat: 50 % Lösung, 2 ml intramuskulär (bei Bedarf basierend auf präoperativen Tests)
Zur Stabilisierung vor der Operation ist eine Vollelektrolytlösung wie Sterofundin® oder Ringerlösung ratsam. Eine 0,9%ige NaCl-Lösung sollte nach Möglichkeit vermieden werden.
Blutdruck- und Kreislaufmanagement
Bei ME/CFS-Betroffenen ist aufgrund der häufig vorkommenden neurologisch vermittelten Hypotonie (Neurally Mediated Hypotension, NMH) besondere Vorsicht bei der Anästhesie geboten. Betroffene weisen oft ein niedriges Plasmavolumen, eine geringe Erythrozytenmasse, venöses Pooling und ein erhöhtes Risiko für vasovagale Synkopen auf.
Wichtige Hinweise: Es sollte besonders auf blutdrucksenkende Mittel und Medikamente geachtet werden, die eine neurogene Synkope verursachen können, darunter:
- Katecholamine wie Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, Sympathomimetika, Vasodilatatoren
Diese Medikamente sollten vorsichtig dosiert oder, wenn möglich, vermieden werden, um das Risiko einer Kreislaufinstabilität zu minimieren.
Weitere Hinweise
- Histaminfreisetzende Narkosemittel: Diese sollten bei ME/CFS-Betroffenen nach Möglichkeit vermieden werden. Insbesondere Thiobarbiturate wie Natriumpentothal können einen Histamin-Flush auslösen.
- Muskelrelaxantien: Traditionelle Muskelrelaxantien sollten möglichst vermieden werden. Alternativ können Relaxantien aus der Curare-Familie, wie Tracrium und Mivacurium, eingesetzt werden, da diese oft besser vertragen werden.
- Sedativa: Sedierende Medikamente sollten bei ME/CFS-Betroffenen sparsam eingesetzt werden, um eine übermäßige Sedierung und verlängerte Erholungszeiten zu vermeiden.