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Energiekrise bei ME/CFS: Die entscheidende Rolle des hypometabolischen Zustands und die weitreichenden Folgen gestörter Zellfunktionen

 

Kurzzusammenfassung

 

Der metabolische Wechsel

Ein neues Verständnis zeigt, dass ME/CFS-Betroffene zwischen Phasen übermäßiger Energieverwendung (hypermetbolisch) und stark reduziertem Energieverbrauch (hypometabolisch) wechseln, während gesunde Menschen in einem stabilen, normometabolischen Zustand bleiben können. Diese Veränderung könnte erklären, warum ME/CFS-Betroffene schon nach geringer Belastung jeglicher Art oft einen Crash durch Post-Exertionelle Malaise (PEM) erleben.

 

Einfluss des ME/CFS-Serums auf Muskelzellen

In-vitro-Studien zeigen, dass das Serum von ME/CFS-Betroffenen gesunde Zellen innerhalb von zwei Tagen von der aeroben zur ineffizienten anaeroben Energieproduktion zwingt, was durch den metabolischen Stress verursacht wird, und mehrere metabolische Wechsel auslöst. Diese Prozesse führen zu einem raschen Energiedefizit, muskulärer Fatigue und vermutlich auch zur Post-Exertionellen Malaise (PEM) sowie einer geschwächten Zellfunktion, die das Immunsystem anfälliger für Infektionen macht.

 

Mitochondriale Fragmentierung und Auswirkungen auf das Immunsystem

Sobald gesunde Zellen dem ME/CFS-Serum ausgesetzt sind, wird dieses als Stressor wahrgenommen, was eine Fragmentierung der Mitochondrien und eine Schwächung der Energieproduktion zur Folge hat. Der dauerhafte Stress erhöht den oxidativen Stress und beeinträchtigt die Immunabwehr, wodurch das Risiko für Infektionen steigt.

 

Detaillierte Infos zur Energieproduktion und den metabolischen Zuständen bei ME/CFS

Für eine detaillierte und laienverständliche Erklärung der Prozesse hinter der Energieproduktion und den metabolischen Zuständen bei ME/CFS empfehlen wir unseren Blog-Beitrag: “Von der Energieerzeugung bis zum Notstrom: Energieprozesse und metabolische Zustände bei ME/CFS verstehen”.


 

Die Wissenschaft im Detail

 

1. Einführung: Mitochondriale Dysfunktion bei ME/CFS

In seinem Artikel „From Hyper to Hypo? Tracking down the Metabolic Dysfunction in ME/CFS and long COVID“ fasst Cort Johnson mehrere Studien zusammen, die eine mitochondriale Dysfunktion bei ME/CFS beschreiben. Diese Dysfunktion wird als zentraler Mechanismus betrachtet, der mit Symptomen wie muskulärer und kognitiver Fatigue sowie der Post-Exertionellen Malaise (PEM) verbunden ist. Oft beginnt diese Dysfunktion im hypermetabolischen Zustand, in dem Zellen übermäßig Energie verbrauchen. Bei Entstehung eines Energiedefizits wechseln sie in einen hypometabolischen Zustand mit stark reduzierter Energieproduktion. Dieser Wechselmechanismus könnte erklären, warum Betroffene im anhaltenden Energiedefizit gehalten werden.

 

1.1 Der Wechsel vom normometabolischen zum hypermetabolischen Zustand

In In-vitro-Studien zeigte sich, dass das Serum von ME/CFS-Betroffenen gesunde Muskelzellen innerhalb weniger Stunden aus dem normometabolischen Zustand in einen hypermetabolischen Zustand versetzt. Dieser Zustand tritt normalerweise bei gesunden Menschen nur bei intensiver Belastung oder starkem Stress auf und stellt eine kurzfristige Anpassung dar, um den erhöhten Energiebedarf zu decken. Die Zellen produzieren dabei übermäßig viel Energie, was zu einer großen Menge an Abfallstoffen führt. Bei gesunden Zellen unterliegt dieser Übergang einem kontrollierten Prozess, der zur schnellen Rückkehr in den normometabolischen Zustand führt.

 

Bei ME/CFS-Betroffenen tritt jedoch bereits durch geringe Belastungsreize ein unkontrollierter Wechsel vom normometabolischen in den hypermetabolischen Zustand auf. Wenn gesunde Muskelzellen in vitro mit dem Serum von ME/CFS-Betroffenen behandelt werden, zeigen sie innerhalb der ersten 24 Stunden eine ausgeprägte Stressreaktion und übermäßige Energieproduktion. Dieser schnelle und intensive Energieverbrauch lässt auf eine außergewöhnliche Empfindlichkeit der Zellen gegenüber dem Serum schließen, die Abfallprodukte in großer Menge erzeugt und die Zellen anfälliger für Fatigue und Abbauprozesse macht. So kann der Rückgang in den normometabolischen Zustand erschwert sein, was sich negativ auf den Energiehaushalt auswirkt.

 

1.2 Übergang vom hypermetabolischen zum hypometabolischen Zustand

Nach der anfänglichen Reaktion im hypermetabolischen Zustand beginnen die Zellen bei fortgesetzter Exposition mit dem Serum von ME/CFS-Betroffenen nach etwa 24 bis 48 Stunden in einen hypometabolischen Zustand zu wechseln. Dieser Zustand zeichnet sich durch eine stark reduzierte Energieproduktion aus. In der Wissenschaft wird vermutet, dass dieser Übergang als Schutzmechanismus dienen könnte, der die Zellen vor weiterem Stress und drohenden Schäden bewahrt. Es handelt sich jedoch um eine Hypothese, die aus den Beobachtungen der In-vitro-Studien abgeleitet wurde und weiterer Bestätigung bedarf.

 

Bei gesunden Menschen tritt der hypometabolische Zustand typischerweise nur in extremen, langfristigen und lebensbedrohlichen Situationen auf, wie zum Beispiel bei starkem Energiemangel durch Verhungern, schwerer Unterkühlung, bei kritischen Erkrankungen wie Sepsis oder im Sterbeprozess. Der Körper schaltet in diesen Zustand, um Energie zu sparen und lebenswichtige Funktionen aufrechtzuerhalten, wenn alle anderen Ressourcen erschöpft sind.

 

Bei ME/CFS-Betroffenen könnte dieser Zustand jedoch durch vergleichsweise geringe Belastungen ausgelöst werden. Wir vermuten, dass der Wechsel in den hypometabolischen Zustand bei ME/CFS der PEM-induzierte Crash sein könnte. Ein solcher Crash könnte zu einem langfristigen Energieengpass führen, der die Symptomatik und die Fähigkeit zur Erholung weiter verschlechtert.

     

1.3 Variabilität und Schwere des Crashs

Der hypometabolische Zustand kann als Spektrum verstanden werden, das von milderen bis hin zu schwerwiegenderen Energieeinsparungen reicht. Bei ME/CFS-Betroffenen könnte dies bedeuten, dass die Intensität der Crashs je nach Art der Belastung und Fortschreiten der Erkrankung variiert. 

 

Da es sich um In-vitro-Studien handelt, ist nicht sicher zu sagen, wann sich welcher Betroffene in welchem metabolischen Zustand befindet und wie lange dieser Wechsel im Körper eines ME/CFS-Betroffenen anhält.

     

2. Wechsel der Energieproduktion

Die Studie von Mughal et al. zeigt, dass das Serum von ME/CFS-Betroffenen nicht nur den metabolischen Zustand in gesunden Zellen verändert, sondern auch einen Wechsel in der Energieproduktion auslöst. Bereits nach 48 Stunden Exposition mit dem Serum wechseln die Muskelzellen von der effizienten aeroben zur weniger effizienten anaeroben Energieproduktion. Dieser schnelle Übergang verringert die Effizienz der Energiegewinnung, was zu einem raschen Energiedefizit und einer verstärkten muskulären Fatigue führt. Diese Prozesse könnten eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Post-Exertionellen Malaise (PEM) spielen.

 

3. Zelltod und Fragilität

Bei längerer Exposition gegenüber dem Serum von ME/CFS-Betroffenen zeigen Muskelzellen nach etwa 96 Stunden zunehmende Fragilität. Die Mitochondrien fragmentieren, was die Energiegewinnung stark beeinträchtigt und die Zellen in einen chronischen Energiemangel versetzt. Diese anhaltende Belastung führt zum programmierten Zelltod (Apoptose), was den Muskelabbau und die chronische Fatigue bei ME/CFS erklären könnte. Die Zellen sind aufgrund des fortwährenden Stresszustands nicht in der Lage, ausreichend Energie zu produzieren und zu erhalten.

 

4. Mitochondriale Fragmentierung und ihre Bedeutung für das Immunsystem

Mitochondrien geraten unter zellulären Stress, sobald sie dem Serum von ME/CFS-Betroffenen ausgesetzt sind. Diese Exposition führt zu einer Fragmentierung der Mitochondrien, die die Effizienz der Energieproduktion stark beeinträchtigt. Hält dieser Stress länger an, schwächt er auch das Immunsystem, da den Immunzellen die notwendige Energie fehlt, um Infektionen abzuwehren. Forscher wie Bhupesh Prusty vermuten, dass diese energetische Störung die Reaktivierung latenter Viren wie HHV-6 und EBV begünstigen könnte, was zur chronischen Natur von Infektionen bei ME/CFS beiträgt und die Symptome verstärkt.

 

5. B-Zellen und ihre Reifung

Avindra Nath und sein Team stellten fest, dass die B-Zellen bei ME/CFS-Betroffenen eine unvollständige Reifung durchlaufen, was zu einer eingeschränkten Immunantwort führt. B-Zellen sind entscheidend für die Produktion von Antikörpern, die Krankheitserreger erkennen und neutralisieren. Die unvollständige Reifung beeinträchtigt die Antikörperproduktion erheblich, sodass das Immunsystem weniger effektiv gegen Infektionen vorgehen kann. Diese reduzierte Abwehrbereitschaft erklärt die erhöhte Anfälligkeit für chronische Infektionen und die Reaktivierung latenter Viren wie EBV, da das Immunsystem diese nicht ausreichend bekämpfen kann.

 

6. T-Zellen und ihr Funktionsverlust

Auch die T-Zellen, die eine zentrale Rolle in der gezielten Abwehr gegen Infektionen spielen, sind von der mitochondrialen Dysfunktion betroffen. Die eingeschränkte Energieproduktion verringert die Fähigkeit der T-Zellen, Infektionen aktiv zu bekämpfen und auf immunologische Herausforderungen zu reagieren. Dies führt zu einer geschwächten Immunantwort und trägt nicht nur zur Verschärfung der Krankheitssymptome bei, sondern erhöht auch das Risiko von Sekundärinfektionen und die Reaktivierung latenter Infektionen. Aufgrund dieser verminderten Effizienz des Immunsystems können bei ME/CFS-Betroffenen Infektionen leichter auftreten und schwerer verlaufen.

     

7. Vergleich mit übertrainierten Sportlern

Cort Johnson vergleicht ME/CFS-Betroffene mit übertrainierten Sportlern im prokatabolen Zustand, in dem der Körper Muskeln und Gewebe abbaut, um Energie zu gewinnen. Beide Gruppen leiden unter einer gestörten Energieproduktion und muskulärer Fatigue. Während übertrainierte Athleten sich durch ausreichende Erholung regenerieren können, bleibt dieser Zustand bei ME/CFS-Betroffenen anhaltend und führt zu einem fortlaufenden Verlust von Muskelmasse, da der Körper auf Muskelprotein als Energiequelle zurückgreift.

 

8. Fazit

In In-Vitro-Studien hat das Serum von ME/CFS-Betroffenen gezeigt, dass es gesunde Muskelzellen von einem normo- zu einem hypermetabolischen bis hin zu einem hypometabolischen Zustand versetzt. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die zelluläre Energieproduktion bei ME/CFS stark beeinträchtigt ist und könnten das Phänomen des „Crashs“ erklären, das bei Betroffenen nach geringen Belastungen auftritt.

 

Wichtig ist, dass diese Studien unter kontrollierten Laborbedingungen durchgeführt wurden (In-Vitro), wodurch die Ergebnisse nicht direkt auf den menschlichen Körper übertragbar sind. Der hypometabolische Zustand bei ME/CFS könnte als Spektrum betrachtet werden, dessen Intensität und Dauer individuell stark variieren. Ebenso können die Crashs unterschiedlich stark ausgeprägt sein, abhängig von Art und Schwere der Belastung sowie Schweregrad der Erkrankung.

 

Dieses Spektrum der metabolischen Zustände und die Vielzahl der Symptome verdeutlichen, wie komplex die Mechanismen bei ME/CFS sind und wie sich verschiedene Körpersysteme in einem Teufelskreis gegenseitig negativ beeinflussen können. Zukünftige Forschung wird zeigen müssen, inwieweit diese In-Vitro-Erkenntnisse auf den gesamten Krankheitsverlauf und die Alltagsbelastungen der Betroffenen übertragen werden können.

 

 

Quellen:

From Hyper to Hypo? Tracking down the Metabolic Dysfunction in ME/CFS and long COVID | by Cort Johnson | Oct 15, 2024


Sekundärliteratur:

571P | Muscular metabolic plasticity in 3D in vitro models against systemic stress factors in ME/CFS and long COVID-19
S. Mughal, F. Andújar-Sánchez, M. Sabater-Arcis, J. Fernández-Costa, J. Ramón-Azcón
https://www.nmd-journal.com/article/S0960-8966(24)00335-3/pdf


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