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Warum Aktivierung bei ME/CFS kontraindiziert ist: Ein wissenschaftlicher Blick auf die Mechanismen der Post-Exertionellen Malaise (PEM)

 

Kurzzusammenfassung

 

Dieser Beitrag und das Handout beleuchten, warum jede Form von Aktivierung, die über die individuelle Belastungsgrenze hinausgeht, bei ME/CFS die Gesundheit ernsthaft gefährden kann. Das zentrale Problem sind die durch die Post-Exertionelle Malaise (PEM) ausgelösten Crashs – eine Reaktion auf Belastungen, die weit über die normale Kapazität des Körpers zur Energienutzung und -regeneration hinausgeht, bestehende Symptome erheblich verstärkt und oft neue Symptome hinzufügt.

 

ME/CFS führt zu schwerwiegenden, nicht anpassungsfähigen Störungen in verschiedenen Körpersystemen. Eine mitochondriale Dysfunktion zwingt die Zellen schon bei kleinster Belastung, ineffizient auf anaerobe Energiequellen zurückzugreifen, was zur Ansammlung schädlicher Stoffwechselprodukte führt. Diese Prozesse fördern Entzündungen und oxidativen Stress und verschlechtern die Krankheitssymptome.

 

Hinzu kommt eine krankhafte Verschiebung der Muskelfasern, die sich nicht wie bei anderen Erkrankungen an ein Training anpasst. Die Muskeln befinden sich in einem Zustand dauerhafter Regeneration und erhalten nicht die Erholung, die sie benötigen. Dadurch regenerieren sie nicht vollständig, was zu einer dauerhaften Schwäche und einer immer niedrigeren Belastungsschwelle führt.

 

Zudem ist das Immunsystem dauerhaft aktiviert und reagiert hypersensitiv auf jegliche Form von Aktivierung, was die Häufigkeit und Intensität der Crashs durch PEM verstärken kann. Selbst die Sauerstoffzufuhr ist durch mikrovaskuläre Dysfunktionen gestört, sodass der Körper schnell in einen Sauerstoffmangel gerät. Zusätzlich wirkt sich die Fehlregulation des autonomen Nervensystems auf das Herz-Kreislauf-System aus und verstärkt die Orthostatische Intoleranz, die oft bei ME/CFS auftritt.

 

Jede Belastung führt zu einem Teufelskreis aus wiederholten Crash-Episoden, die den Zustand dauerhaft verschlechtern und die bereits eingeschränkte Anpassungsfähigkeit des Körpers weiter destabilisieren kann. Der Beitrag zeigt, warum Aktivierung bei ME/CFS nicht zur Regeneration, zum Muskelaufbau oder zur Stärkung beiträgt, sondern den Körper langfristig schwächt und das Risiko ernsthafter Komplikationen erhöht.

 


 

Die Wissenschaft im Detail

 

1. Post-Exertionelle Malaise (PEM)

Post-Exertionelle Malaise (PEM) ist das Hauptmerkmal von ME/CFS und löst sogenannte „Crashs“ aus. Diese Crashs beschreiben eine pathologische Reaktion des Körpers auf minimale körperliche, kognitive, emotionale, sensorische oder orthostatische Belastungen, welche die bestehenden Symptome verschlechtern und neue hervorrufen, die Tage, Wochen oder länger andauern können. Die Symptome können unmittelbar auftreten, häufig jedoch zeigt sich der sogenannte „Crash“ zeitverzögert – bis zu 72 Stunden nach der Belastung. Die Belastungsschwelle, ab der ein Crash durch PEM ausgelöst wird, ist individuell, hängt vom Schweregrad ab, schwankt im Tagesverlauf durch Flare-Ups und ist meist unvorhersehbar.

 

Im Gegensatz zu anderen chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Rheuma, bei denen moderate Aktivität zur Förderung entzündungshemmender Prozesse und einer gesteigerten Anpassungsfähigkeit von Muskeln und Kreislauf beitragen kann, fehlt diese Fähigkeit der Anpassung bei ME/CFS völlig. Statt Belastungstoleranz aufzubauen, bewirkt selbst minimale Aktivierung bei ME/CFS eine kumulative Verschlechterung des Gesundheitszustands, in dem sich Energiedefizite und entzündliche Reaktionen aufbauen. Dieser Teufelskreis aus wiederholten Crashs senkt die Belastungstoleranz dauerhaft und führt zu einer zunehmenden Überforderung der Körpersysteme.

 

2. Dysfunktionale Energieproduktion und metabolische Dysregulation

Bei ME/CFS-Betroffenen zeigt sich eine ausgeprägte Störung in der Energieproduktion und im Stoffwechsel. Studien, darunter Arbeiten von Wüst und Steinacker, belegen, dass die Mitochondrien selbst bei leichter Aktivität frühzeitig in einen ineffizienten, anaeroben Modus wechseln. Dieser Wechsel tritt bei ME/CFS schneller und bereits bei minimaler Belastung ein, was eine Anhäufung von Stoffwechselnebenprodukten wie Laktat zur Folge hat. Zudem kommt es zu einer vermehrten Produktion reaktiver Sauerstoffspezies (ROS), die Entzündungs- und oxidative Prozesse im Körper verstärken. Diese Mechanismen beeinträchtigen die Energiebereitstellung erheblich und verschärfen den pathologischen Zustand.

 

Der Wechsel zwischen verschiedenen metabolischen Zuständen, vom normo- über den hyper- hin zum hypometabolischen Zustand, wurde bei ME/CFS-Betroffenen dokumentiert. In der hypermetabolischen Phase versucht der Körper, den kurzfristigen Energiebedarf zu decken, was jedoch zu einer Überaktivierung und einem erhöhten Verbrauch der Energiereserven führt. Dieser Zustand erzeugt hohen oxidativen Stress, der den Körper schließlich in den hypometabolischen Zustand zwingt. In dieser Phase sinkt die Energieproduktion auf ein Minimum, was zur Verschlechterung aller Symptome und zu einem extremen Energiemangel führt. Dieser Teufelskreis verhindert eine stabile Energiebereitstellung und führt dazu, dass selbst geringfügige Aktivitäten die metabolische Dysregulation verstärken und die Post-Exertionelle Malaise (PEM) intensivieren.

 

3. Zelluläre Energie-Resilienz und Muskelstrukturveränderungen

Die Zellen von ME/CFS-Betroffenen zeigen eine stark eingeschränkte Fähigkeit, Energie flexibel bereitzustellen, was als zelluläre Energie-Resilienz bezeichnet wird. Diese mangelnde Anpassungsfähigkeit der Mitochondrien führt dazu, dass selbst leichte körperliche Belastungen eine drastische Verschärfung des Energiedefizits verursachen. Chronisch oxidativer Stress und mitochondriale Dysfunktionen beeinträchtigen die Energieproduktion dauerhaft und tragen zur Ansammlung schädlicher Stoffwechselprodukte bei, welche die Entzündungsprozesse weiter verstärken und die zelluläre Gesundheit zusätzlich belasten.

 

Zudem weist die Muskulatur von ME/CFS-Betroffenen strukturelle Veränderungen auf, die zu einer Verschiebung hin zu schnell ermüdenden und weniger oxidativen Muskelfasern führen. Diese Fasern können Energie nur über kurze Zeiträume effizient bereitstellen und geraten bei Aktivität schnell in ein Energiedefizit. Durch die dauerhafte Belastung und die pathologischen Mechanismen der Post-Exertionellen Malaise (PEM) bleibt die Regenerationsfähigkeit der Muskeln chronisch eingeschränkt. Selbst geringfügige körperliche Aktivitäten beschleunigen den Verlust an Muskelkraft und -qualität, sodass keine belastbare Toleranz aufgebaut werden kann und das Risiko für PEM-induzierte Crashs stetig erhöht wird.

 

4. Mikrovaskuläre Dysfunktion und chronische Hypoxie im Muskelgewebe

Bei ME/CFS liegt eine gestörte Durchblutung und Sauerstoffversorgung der Muskeln vor, die zu chronischer Hypoxie und einem erhöhten oxidativen Stress führt. Die eingeschränkte Sauerstoffextraktion im Muskelgewebe zwingt den Körper, auf ineffiziente anaerobe Energiequellen zurückzugreifen, was zur vermehrten Bildung von Laktat und reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) führt. Diese Prozesse verschärfen zusätzlich die zelluläre Energiekrise und entzündlichen Reaktionen in den Muskeln und begünstigen so die Post-Exertionelle Malaise (PEM).

 

Diese mikrovaskuläre Dysfunktion macht es dem Körper unmöglich, sich an körperliche Belastungen anzupassen, da jede Aktivierung die Energiekrise und PEM weiter verstärkt. Die dauerhafte Hypoxie schränkt die Regenerationsfähigkeit der Muskeln weiter ein und führt dazu, dass selbst geringe körperliche Aktivität das Risiko für PEM-induzierte Crashs erhöht.

 

5. Dysregulation des autonomen Nervensystems und Orthostatische Intoleranz (OI)

Bei ME/CFS zeigt sich eine erhebliche Dysregulation des autonomen Nervensystems, die häufig zu Orthostatischer Intoleranz (OI) führt – also der Unfähigkeit, längere Zeit in aufrechter Position zu verweilen. Selbst geringe orthostatische Belastungen wie Lagewechsel, Stehen oder Sitzen können die Symptome intensivieren und die Häufigkeit von Crash-Episoden durch Post-Exertionelle Malaise (PEM) erhöhen. Diese Reaktion tritt auf, da das autonome Nervensystem bei ME/CFS die Kreislaufregulation nicht stabil halten kann. Das Herz-Kreislauf-System reguliert Blutdruck und Herzfrequenz unzureichend, was zu Hypotonie, Tachykardie und Sauerstoffmangel in Organen führt.

 

Normalerweise kommt es beim Aufstehen zu einer Verengung der Blutgefäße, der sogenannten Vasokonstriktion, die den Blutdruck stabil hält und die Sauerstoffversorgung von Gehirn, Herz und anderen Organen sichert. Bei OI ist dieser Mechanismus jedoch gestört, was zu einer bis zu 30 % verringerten Durchblutung des Gehirns und einer unzureichenden Versorgung lebenswichtiger Organe führt.

 

Körperliche Aktivität oder auch nur die aufrechte Haltung verstärken diese Kreislaufregulationsstörungen und verschärfen das Energiedefizit. Da das autonome Nervensystem auf orthostatische Reize hypersensitiv reagiert, fehlen Betroffenen die physiologischen Reserven, um auf wechselnde Kreislaufbelastungen zu reagieren. Dieser Verlust an Anpassungsfähigkeit führt zu einem kumulativen Effekt auf die Energiekrise und fördert die PEM.

 

6. Neuroinflammation und gestörte neuronale Netzwerke

ME/CFS-Betroffene zeigen eine starke Neuroinflammation und gestörte neuronale Netzwerke, was zu kognitiven Einschränkungen und einer erhöhten Sensitivität gegenüber körperlichen und kognitiven Stressoren führt. Studien dokumentieren, dass das zentrale Nervensystem auf Belastungen mit einer Entzündungsreaktion antwortet. Diese neuroinflammatorischen Prozesse verschlechtern die Signalverarbeitung und senken die Verfügbarkeit neuronaler Ressourcen, was besonders unter Belastung zu einer Destabilisierung des Nervensystems führt.

 

Die hypersensitive Reaktion auf kognitive Anforderungen verstärkt diese Prozesse zusätzlich, da das Gehirn bei ME/CFS nicht ausreichend auf Belastungen reagieren kann. Selbst geringe kognitive oder sensorische Reize können eine Verschlechterung der Symptome und eine Anfälligkeit für Crashs verursachen, wodurch eine stabile kognitive Leistungsfähigkeit nahezu unmöglich wird.

  


 

Fazit

 

ME/CFS unterscheidet sich grundlegend von anderen chronischen Erkrankungen, da selbst minimale Belastungen – körperlicher, kognitiver, emotionaler, orthostatischer oder sensorischer Natur – eine unverhältnismäßige Verschlechterung des Gesundheitszustands auslösen. Diese Belastungen kumulieren sich und führen zu wiederkehrenden Crash-Episoden durch Post-Exertionelle Malaise (PEM), deren Schwelle aufgrund von täglichen Fluktuationen und Flare-Ups nicht vorab erkennbar ist. In der Retrospektive wird die individuelle Belastungsgrenze oft erst sichtbar, wenn der Körper bereits im Crash-Zustand ist. Jeder Crash birgt das Risiko einer dauerhaften Verschlechterung.

 

Etablierte Reha-Programme sind bei ME/CFS nicht geeignet, da die Belastungstoleranz instabil ist und tendenziell abnimmt. Sie weist eine diffuse obere Grenze auf, die nicht überschritten werden sollte und oft unvorhersehbar schwankt. Diese Programme verkennen die kumulative Wirkung auf die vielfältigen Körpersysteme: Die gestörte Energieproduktion, chronische Immunaktivierung und die neuronale Dysfunktion stehen in einer ständigen Wechselwirkung zueinander und beeinträchtigen nicht nur die individuellen Systeme, sondern auch deren Zusammenspiel. Die Instabilität eines einzigen Systems kann die Dysfunktion der anderen verstärken, was zu einer noch stärkeren Beeinträchtigung und langfristigen Zustandsverschlechterung führt.

 

Vielmehr kann eine individualisierte Behandlung, die Off-Label-Medikation zur symptomatischen Linderung einbezieht, potenziell zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen – sofern sie unter medizinischer Begleitung erfolgt und gut vertragen wird.

 


 

Quellen

 

1. Appelman, B., Charlton, B. T., Goulding, R. P., Kerkhoff, T. J., Breedveld, E. A., Noort, W., Offringa, C., Bloemers, F. W., van Weeghel, M., Schomakers, B. V., Coelho, P., Posthuma, J. J., Aronica, E., Wiersinga, W. J., van Vugt, M., & Wüst, R. C. I. (2024). Muscle abnormalities worsen after post-exertional malaise in long COVID. Nature Communications, 15(1), Artikel 17. https://doi.org/10.1038/s41467-023-44432-3

 

2. Bizjak, D. A., Ohmayer, B., Buhl, J. L., Schneider, E. M., Walther, P., Calzia, E., Jerg, A., Matits, L., & Steinacker, J. M. (2024). Functional and morphological differences of muscle mitochondria in chronic fatigue syndrome and post-COVID syndrome. International Journal of Molecular Sciences, 25(3), Artikel 1675. https://doi.org/10.3390/ijms25031675

 

3. Haunhorst, S., Dudziak, D., Scheibenbogen, C., Seifert, M., Sotzny, F., Finke, C., Behrends, U., Aden, K., Schreiber, S., Brockmann, D., Burggraf, P., Bloch, W., Ellert, C., Ramoji, A., Popp, J., Reuken, P., Walter, M., & Stallmach, A. (2024). Towards an understanding of physical activity-induced post-exertional malaise: Insights into microvascular alterations and immunometabolic interactions in post-COVID condition and myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. Infection. https://doi.org/10.1007/s15010-024-02386-8

 

4. Paffrath, A., Kim, L., Kedor, C., Stein, E., Rust, R., Freitag, H., Hoppmann, U., Hanitsch, L. G., Bellmann-Strobl, J., Wittke, K., Scheibenbogen, C., & Sotzny, F. (2024). Impaired hand grip strength correlates with greater disability and symptom severity in post-COVID myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. Journal of Clinical Medicine, 13(2153). https://doi.org/10.3390/jcm13072153

 

5. Stallmach, A., Quickert, S., Puta, C., & Reuken, P. (2024). The gastrointestinal microbiota in the development of ME/CFS: A critical view and potential perspectives. Frontiers in Immunology, 15, Artikel 1352744. https://doi.org/10.3389/fimmu.2024.1352744

 

6. Steiner, S., Fehrer, A., Hoheisel, F., Schoening, S., Aschenbrenner, A., Babel, N., Bellmann-Strobl, J., Finke, C., Fluge, Ø., Froehlich, L., Goebel, A., Grande, B., Haas, J. P., Hohberger, B., Jason, L. A., Komaroff, A. L., Lacerda, E., Liebl, M., Maier, A., … Scheibenbogen, C. (2023). Understanding, diagnosing, and treating Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome – State of the art: Report of the 2nd international meeting at the Charité Fatigue Center. Autoimmunity Reviews, 22, Artikel 103452. https://doi.org/10.1016/j.autrev.2023.103452

 

Transkripte und Vorträge

1. Puta, C. (2024). PEM Verstehen: Immunbiologische und physiologische Implikationen für körperliche Aktivität. Vortrag auf der Fatigatio Fachtagung 2024. Vortrag.

 

2. Scheibenbogen, C. (2022). COVID-19 as a Trigger for ME/CFS: Severity Biomarkers and Underlying Mechanisms. Solve ME Initiative, Oktober 2022. Vortrag.

 

3. Scheibenbogen, C. (2022). Post COVID Syndrom: Vom Pathomechanismus zu Therapiestudien. World Health Network Symposium zu ME/CFS, Post- und Long COVID, September 2022. Vortrag.

 

4. Steinacker, J. M. (2024). Funktionelle und morphologische Veränderungen in Mitochondrien in der Muskulatur. Vortrag auf der Fatigatio Fachtagung 2024. Vortrag.

 

5. Prusty, B. (2024). Mitochondria as Key Players in ME/CFS Pathogenesis. Vortrag auf der Fatigatio Fachtagung 2024. Vortrag.

 

6. Wüst, R. (2024). Muscle Abnormalities and Post-Exertional Malaise in ME/CFS and Long COVID. Vortrag auf der Fatigatio Fachtagung 2024. Vortrag.